Nach langer Zeit lese ich mal wieder ein Buch von Christa Wolf: „Ein Tag im Jahr“. Auf Anregung der sowjetischen Zeitschrift „Iswestija“ hat sie von 1960 bis zu ihrem Tod 2011 in jedem Jahr einen Tag ausführlich beschrieben: den 27. September. Mich fasziniert, wie sich aus diesen zufällig ausgewählten Momentaufnahmen Leben zusammen setzt. Scheinbar ganz private Familiengeschichten. Und doch begreife ich gerade aus diesen Beschreibungen wie es war – unser Leben in der DDR. Wie die Hoffnung langsam abstarb, wie Lähmung und Müdigkeit immer mehr zunahmen.

Christa Wolf schreibt in ihrem Vorwort: „Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit?… Es gibt zu erkennen, daß es mehr ist als die Summe der Augenblicke. Mehr auch als die Summe aller Tage. Irgendwann, unbemerkt von uns, verwandeln diese Alltage sich in gelebte Zeit. In Schicksal, im besten oder schlimmsten Fall. Jedenfalls in einen Lebenslauf.“

Ja – genau dies ist es. Und nicht nur solch „großes Leben“ einer berühmten Schriftstellerin, sondern jedes einzelne Leben. Auch wenn es noch so unbedeutend scheint gehört es doch zur großen Geschichte. Halten wir sie nicht fest, gibt es irgendwann nur noch theoretische Draufblicke. Zeitleisten ohne Inhalt. Erstellt von Leuten, die nie dabei waren.

In jedem Vorwort fragt sich Christa Wolf auch, warum sie mit ihrer Tagesbeschreibung nicht aufgehört hat – der „Iswestija“ ging es schließlich nur um einen einzigen Tag im Jahr 1960: „Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingschwestern des Vergessens: Immer wieder wurde (und werde) ich mit dieser unheimlichen Erscheinung konfrontiert. Gegen diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein wollte ich anschreiben… Das Bedürfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde…“

Gilt dies nicht auch für uns? Möchte nicht jeder „gekannt werden“? Mit unserem Leben schreiben wir Geschichte – ob wir dies wollen oder nicht. Also sollten wir wenigstens unsere Erinnerungen aufbewahren. Weil sie ein Teil der großen Geschichte sind. Ein Teil, der uns gehört und den wir weiter geben können.